Herðubreið bei Sonnenaufgang
Donnerstag, 23. September
Eine Stunde vor Sonnenaufgang werfe ich mit einem Auge einen kurzen Kontrollblick nach draußen. Was ist das denn? Der Himmel ist kräftig lila gefärbt! Hohe Chance also auf gute Fotos. Jetzt schnell ein paar warme Klamotten übergestreift, die bereit liegende Kamera geschnappt und nix wie raus. Über Nacht ist etwa eine Handbreit Schnee gefallen, und der ganze Ort hat sich in ein kleines Winter-Wonderland verwandelt. Ein Traum in Weiß, und ich bin gerade der Einzige, der auf den Beinen ist. In den nächsten anderthalb Stunden durchstreife ich das Dorf und finde immer wieder neue Motive. Und zum ersten Mal gelingen mir zufriedenstellende High-Key-Fotos direkt schon beim Aufnehmen und nicht erst hinterher in der Nachbearbeitung. Ein phantastischer Start in den Tag! Leider bleibt das Wetter nicht so prachtvoll, und nach dem Frühstück ist der Himmel bereits wieder komplett bedeckt. Komplett? Nein! Ein tapferes kleines blaues Loch über den Ostfjorden leistet Widerstand gegen die übermächtige Stratus-Bewölkung. Dorthin führt uns also unser Weg. Im kleinen Küstenort Vopnafjörður fallen uns sofort die im Vergleich zum Rest Islands großen und gepflegten Häuser und Gärten auf, auch der Golfplatz scheint uns relativ üppig dimensioniert, angesichts der geringen Einwohnerzahl. Kommissar Null-Null-Snyder verbeißt sich in der Netzrecherche und findet heraus, daß in der Nähe dieses Dorfes einer der reichsten Männer Großbritanniens seinen Rückzugsort hat. Standesgemäß mit eigenem Privatfluß zum Lachsfischen und einem jederzeit startklaren Businessjet am nächstgrößeren Flugplatz in Egilsstaðir. Wir folgen der Küstenstraße, halten hier und da für Fotos an und schrauben uns dann auf einer 10km langen Serpentinenstrecke mit 14% Steigung zum etwa 700 m hoch gelegenen Paß über die Hellisheiði hinauf. Bei der Abfahrt auf der anderen Seite bietet sich uns ein atemberaubendes Panorama. Als wir auf der Ostseite der Hellisheiði ankommen und die Sicht auf die breite Ebene zu unseren Füßen frei wird, bin ich sofort hin und weg ob dieses herrlichen Anblicks. Wie in einem Science-Fiction-Film, bei dem ein Raumschiff auf einem erdähnlichen, aber unbewohnten Planeten landet, auf dem es aussieht wie bei uns vor 100 Millionen Jahren. Hier wäre die top Location für die Außenaufnahmen dafür. Da ist ein längerer Fotohalt fällig, auch die Drohne kommt mal wieder zum Einsatz. Das Wetter ist zwar nicht optimal, aber da dürfen wir in dieser Jahreszeit nicht sehr wählerisch sein. Kurz bevor wir komplett durchgefroren sind, steigen wir wieder ins Auto und fahren weiter nach Egilsstaðir, wo wir etwas zum Mittag essen wollen. Wir werden schnell fündig in der Pizzeria “Askur”, die in einem hangar-artigen Industriegebäude in der Nähe des Flughafens untergebracht ist. Auf dem Weg dorthin spotten wir auf dem Rollfeld die geparkte Gulfstream G650 mit der Kennung M-OVIE, die dem eben schon erwähnten Milliardär Jim Ratcliffe gehört. Nachdem wir gut gestärkt sind, bekommt auch unser Toyota wieder seinen Dieselvorrat aufgefüllt. Und weil das hier kostenlos verfügbar ist, waschen wir das Auto auch gleich noch. Zumindest den feinen braunen Vulkanstaub spülen wir ab, der sich in den vergangenen Tagen in allen Ritzen am Landcruiser festgesetzt hat. So, alle satt und sauber? Weiter geht’s… Während mein fotografischer Spleen das weiße Haus vorm Berg ist, ohne dessen bildliche Umsetzung keine unserer Männertouren auskommt, so hat sich mein Kumpel Micha nun auch ein solches Steckenpferd zugelegt. Wald muß es sein – egal wie klein, egal wie abgelegen und völlig egal, ob der fotografisch überhaupt etwas her macht oder nicht. Aber in Island ist er nun einmal Mangelware, und seltene Dinge üben seit jeher einen starken Reiz auf die Menschen aus. Nach ein paar Kilometern auf der Ringstraße sind wir plötzlich mittendrin und Herr Hyna im siebten Himmel. Auch die weitere Nebenstrecke zum zweiten Etappenziel ist gesäumt von weitläufigen Flächen borealen Nadelwaldes mit gelegentlichen bunten Laubbaum-Einsprengseln. Ich lasse meinen Fahrer mal machen und nutze die Unterbrechungen für kleine Nickerchen am Straßenrand. Am Nachmittag erreichen wir den Parkplatz am Hengifoss. Bäume fotografieren schlaucht ganz schön, und darum pausiert nun Micha, während ich den Weg hinauf zum Wasserfall alleine hoch laufe. Kann ja nicht lange dauern, denn die Attraktion scheint greifbar nahe zu sein. Leider ist das eine optische Täuschung, und so brauche ich über zwanzig Minuten bis zum Fuße des Hengifoss. Und jetzt setzt auch noch leichter Nieselregen ein. Mit einer Handvoll wenig überzeugender Bilder im Gepäck mache ich mich auf den Rückweg. Unterwegs sticht mir dann noch der zwischen unterschiedlich hohen Basaltstufen herabfließende Litlanesfoss ins Auge, der mir deutlich besser gefällt als sein großer Bruder. Zurück am Auto beraten wir die weitere Strategie. Der Regen nervt, aber vielleicht sieht es ja ein paar Kilometer weiter im Hochland besser aus? Wir versuchen unser Glück und wollen auf der Austurleið in Richtung Karahnjukar fahren. Asphaltiert ist sie ja bis dorthin, sollte also kein Problem sein. Aber weit kommen wir nicht, denn 400 Höhenmeter weiter oben fällt der Niederschlag als Schnee, und die Sicht ist unter aller Sau, weil wir uns mitten in den Wolken befinden. Also drehen wir nach kurzer Beratung wieder um und fahren auf einer Nebenstrecke nach Egilsstaðir zurück und von dort aus weiter über die Ringstraße Nr.1 zum Hauptquartier in Möðrudalur. Auch auf dem Weg dorthin schneit es inzwischen. Wir brauchen für die verbleibenden 100 Kilometer über zwei Stunden. Als wir in unserer Unterkunft eintreffen, ist das Wetter nun endgültig so schlecht, daß man keinen Hund mehr vor die Tür jagen würde. Nach einer heißen Dusche sind wir wieder frisch fürs Abendessen im Restaurant nebenan. Heute gibt’s eine Auswahl an Vorspeisen: Moossuppe (keine kulinarische Offenbarung) und geräucherte Gänsebrust auf Salat (sehr übersichtlich). Dazu Brot und Butter; muß reichen. Immerhin haben wir eine nette Tischnachbarin – Anna aus Luzern, die zum ersten Mal in Island ist und die Insel alleine mit dem Mietwagen bereist. Wir tauschen unsere Erfahrungen über das Autofahren zu dieser Jahreszeit und das Land im Allgemeinen aus. Die Zeit vergeht wie im Flug. Kurz nach zehn verabschieden wir uns für heute.
Abfahrt von der Öxaraheiði zum Berufjördur
Freitag, 24. September
Heute müssen wir wieder ordentlich Strecke machen, denn unsere nächste Unterkunft befindet sich in Höfn, 360 Kilometer entfernt. Einen Vorteil hat das schlechte Wetter mit Schneeregen und Nebel: die Fotostops werden wohl eher kurz, wenn nicht sogar ganz ausfallen, was unser Fortkommen enorm beschleunigen sollte. Nach einem letzten ausgiebigen Frühstück packen wir unseren Kram zügig ins Auto. Ich gehe noch mal schnell rüber zur Rezeption fürs Auschecken und ein kurzes (sehr positives) Feedback, und dann können wir starten. Auf den ersten Kilometern kommen wir gut voran, obwohl die Straße voller Schneematsch ist. Bis auf den Rjúkandifoss gibt es entlang der Strecke nämlich kaum irgendwelche Sehenswürdigkeiten. Unser Plan zur schnellen Truppenverlegung bekommt jedoch kurz vor Egilsstaðir erste Risse. Die Bewölkung lichtet sich etwas, und ein fahles Licht scheint auf die herbstlich-bunte Landschaft entlang der Jökulsá á Brú, in deren Flußbett einige Inseln zum Fotografieren einladen. Einen weiteren vorher nicht geplanten Stop machen wir am Hengifoss, wo ich hoffe, mit der Drohne vom Parkplatz bis zum Hauptfall fliegen zu können. Leider geht mir unterwegs der Funkkontakt zum Fluggerät mitten in der Schlucht verloren, und auch die Windwarnung kam schon. Plötzlich graues Bild im Display der Fernbedienung. Sollte die Mavic hier ein feuchtes Grab gefunden haben? Das wäre ja echt dumm gelaufen. Aber dank der automatischen Return-Home-Funktion fliegt sie bei einem Verbindungsabbruch selbständig zu ihrem Meister zurück. Glück gehabt! Auf den nächsten achtzig Kilometern sehen wir außer Nebel, Bergsilhouetten und Schneefeldern nicht allzu viel, denn wir überqueren die Hochebene Öxaráheidi. Und es regnet wieder. Bei der Abfahrt hinunter zum Berufjördur zeigen sich erste Lücken in der Wolkendecke. Ich freue mich, die Gegend weckt in mir Erinnerungen an die Färöer, und ich möchte möglichst viele Bilder davon mitnehmen. Also müssen eben doch mehr Fotostops als geplant eingeschoben werden. Ab dem Álftafjördur bereichert auch wieder Wald die Szenerie, und der Charakter der Landschaft erinnert an die Rocky Mountains in Kanada. Jetzt ist Micha in seinem Element! Ich lasse hier und da mal wieder die Drohne für ein paar kurze Luftaufnahmen fliegen, allerdings macht ihr die steife Brise das Leben schwer. Am frühen Abend erreichen wir ein fotografisches Highlight: den schwarzen Strand in Stokksnes mit dem Vestrahorn im Hintergrund. Um Zeit zu sparen, teilen wir uns wieder auf und stromern in dem weitläufigen Areal jeder für sich herum. Nach einer Stunde haben wir genug Bilder im Kasten, um die Reise fortsetzen zu können. In Höfn angekommen, müssen wir feststellen, daß sich unser Quartier mitten in einer Baustelle befindet, denn hier wird heute nacht die Straße saniert. Kulanterweise können wir die gebuchte Übernachtung sofort kostenlos stornieren. Jetzt müssen wir uns nach einer Alternative umsehen, aber erst einmal will ich gerne etwas essen. Im Restaurant „Pakkhus“ bekommen wir noch spontan einen Tisch, und während wir auf unsere Bestellung warten, finde ich ein neues Quartier in der Nähe der Gletscherlagune. Diese wollen wir nämlich morgen als Erstes besuchen. Das Essen – Gänseheule bzw. Steak vom Lamm – schmeckt ausgezeichnet. Wir merken uns: Pakkhus in Höfn, top Restaurant. Aber jetzt müssen wir weiter. Im Dunkeln kommen wir am Gästehaus Ekra im Breidabolsstadur an. Zimmer ist okay, die Betten bequem. Und mit wieder einmal vielen verschiedenen Eindrücken endet dieser Tag.
Vestrahorn
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